If you love somebody, set them free.

Seit einigen Tagen ist unser Kind nun im Kinder­garten zur Ein­gewöhnung und es läuft erstaunlich gut. „Gut“ – das bedeutet, dass wir Eltern eigentlich nicht mehr wirklich nötig sind, um für Sicher­heit zu sorgen und unser Spröss­ling langsam wirklich flügge wird. Keine einfache Erkenntnis.

Dieser Über­gang in die Selbst­ständigkeit ist nur eine weitere Phase in der Entwicklung von Auto­nomie im Kind und gleich­zeitig aber auch besonders schwer. Weil wir Eltern plötzlich nicht mehr alleinige Erziehungs­partner:innen des Kindes sind. Weil plötzlich der Tages­ablauf durch eine Institution außer­halb unserer Familie gesteuert wird. Und vor allem: weil viele der Erlebnisse unseres Kindes jetzt außer­halb unserer direkten Wahr­nehmung und Einfluss-Sphäre passieren.

Aber wie gehe ich als Vater mit diesem Mehr an Auto­nomie und diesem Weniger an Kontrolle um? Wie schaffe ich es, in Liebe loszulassen? Spoiler: ich habe keine end­gültige Antwort, aber ein paar Ideen.

Gedicht von Sven Golob
Meine Gefühle rund um diesen Über­gang habe ich versucht, in einem Gedicht festzuhalten.

Was steht dem Loslassen entgegen?

Bevor ich für mich heraus­finden kann, wie das Los­lassen gut gelingen kann, lohnt sich ein Blick auf die Gegen­gewichte. Welche „bremsenden“ Gefühle regen sich und was bedeuten sie für mich? Was wünsche ich mir von meinem Kind und warum?

Angst

Angst spielt bei mir eine große Rolle: ich spüre klar, wie ich mir Sorgen mache, ob mein Kind liebe­voll, sorgsam und wert­schätzend auf­genommen wird. Nicht nur von den Betreuer:innen, sondern natürlich auch von den anderen Kindern. Die Angst, dass meinem Kind Schaden zugefügt werden könnte ist bei mir körperlich spür­bar: mit einem Panik­magen. Das Fatale ist ja gerade, dass ich weiß, dass sich diese Erfahrungen nicht vermeiden lassen und gleich­zeitig auch wichtig sind, damit aus der Sicher­heit in der Bindung zu uns Eltern auch Selbst­bewusstsein und Selbst­sicherheit entstehen können. Im Konflikt mit anderen und in der Auseinander­setzung mit den eigenen Grenzen.

Eine andere Angst ist die vor dem Verlust der engen Beziehung zu meinem Kind. Was, wenn plötzlich nur noch Mama die nötige Sicher­heit geben kann? Was, wenn plötzlich die lieben Erzieher:innen in der Gunst ganz oben stehen und ich nur noch „der doofe Papa“ bin, der immer „so viel schimpft“? Wie verändert sich die Sicht meines Kindes auf mich und mein Verhalten, wenn es anderswo auch positive Beziehungs­erfahrungen machen kann? Letztlich ist es eine Angst vor Beziehungs­abbruch.

Trauer

Es gibt in dieser Zeit einiges zu betrauern: das Ende der kuscheligen Zeit zu dritt. Das endgültige Aus­treten aus dem Nest und das Entdecken von eigenen Interessen. Geheimnisse, von denen ich nie etwas erfahren werde. Erste Male, die ich nicht mit­erlebe. Wunden, die ich nicht verhindern oder heilen kann.

Meine Trauer spüre ich immer wieder deutlich als „Deck­schicht“ auf dem Panik­magen, wenn sich die Auf­regung legt und mir die Möglichkeit gibt, mehr zu spüren. Und natürlich auch in den Augen, die plötzlich erkennen, was sie nicht sehen können. Die auf eine geschlossene Tür blicken, hinter der dieser kleine Mensch eigene Schritte tut, die sich meiner Einfluss­sphäre entziehen.

Was diese Emotionen wollen

Um diese bremsenden Faktoren besser zu verstehen und mit ihnen umzugehen, habe ich mir Carlo Moisos Modell vom Feeling Loop zu Herzen genommen. Moiso fragt nach Möglichkeiten, aus den vier Grund­gefühlen, die die Transaktions­analyse kennt (Angst, Wut, Trauer & Freude), jeweils einen Weg in die Auto­nomie – also der selbst-bewussten Beziehungs­gestaltung im Hier & Jetzt – zu finden.

Dazu identifiziert er unter anderem ein soziales Anliegen, dass sich hinter jedem dieser Gefühle verbirgt. Diese Anliegen kann ich erkennen lernen und darüber reflektieren, sie in Beziehung zu mir und dem anderen setzen und damit meine Fähigkeiten zur spontanen, unvorein­genommenen Reaktion, zur echten Offenheit gegen­über anderen und zum bewussten Erleben im Hier und Jetzt stärken. Letztlich also meine Auto­nomie, die sich immer in Bezug auf mein Gegen­über definiert.

Kurz gesagt: wenn ich erkenne, was meine Gefühle eigentlich wollen, kann ich daraus lernen, was wirklich für mich wahr ist und wie ich daran wachsen kann.

Lies' hier noch mal meinen Beitrag zu Kurz­arbeit – auch als „Versorger“ hast du schnell mit solchen Gefühlen zu kämpfen.

The Feeling Loop
Der Feeling Loop nach Carlo Moiso (Moiso: „The Feeling Loop“, in: TA – State of the Art, 1984.), eigene Über­setzung.

Was meine Angst will

Angst hat nach Moiso den Hinter­grund, dass wir uns nach Hilfe oder Rück­versicherung sehnen. Das bedeutet, dass ich erkennen kann, wo meine eigenen Grenzen sind und sie akzeptieren lerne.

Als Vater bin ich nicht all­mächtig. Ich kann mein Kind nur bis zur Tür bringen, danach macht es eigen­ständige Erfahrungen in der Welt, und zwar nicht nur aus meiner Sicht „positive“. Die erhoffte Rück­versicherung kann für mich dann darin bestehen, dass ich zwar nicht immer da sein kann, aber bis hierher mein Bestes getan habe, um mein Kind mit den nötigen Ressourcen auszustatten, um an diesen Situationen zu wachsen.

Was meine Trauer will

Meine Trauer verlangt nach Trost, nach Gehalten­werden und einem Weg aus dem instinktiven Verschluss (sozusagen dem Einigeln als Schutz­haltung), der mit ihr einher­geht. Diesen Trost kann ich mir dadurch selbst geben, indem ich die Grenzen aller Menschen erkenne und akzeptieren lerne: jeder Mensch wächst und jedes Wachstum geht auch mit Schmerz einher. Ja, es ist traurig, dass ich nicht durch die Augen meines Kindes sehen kann. Aber das ist nun mal die Grenze aller Menschen.

Die Symbiose, die mein Kind und ich bisher hatten, wird eben immer lockerer – und das ist doch auch gut so. Wir dürfen uns ent-falten und dabei jeder für sich erkennen, wer wir sind – auch ohne den anderen. Ich kann doch auch die Freude entdecken, die aus diesem Abschied entstehen kann!

Zum Schluss: Grund zur Freude

Ja, auch Freude spielt eine Rolle. Wenn ich nämlich meine Auto­nomie in dieser Erfahrung stärke, kann ich auch die „nützlichen“ Anteile meiner Gefühle wahr­nehmen.

Meine Angst zeigt mir doch deutlich, wie wichtig mir mein Kind und unsere Beziehung sind. Dass wir uns von einander trennen können.

Meine Trauer lässt mich spüren, dass wir eine tiefe Verbindung haben und mein Kind auch ein Teil meiner Selbst ist. Und trotzdem jetzt die eigenen Flügel aus­breitet.

Das macht mich glücklich und stolz. Was für ein Wunder so ein kleiner Mensch ist. Wie offen, unvoreingenommen, voller Taten­drang und Entdecker­geist diese kleinen – oh, viel zu kleinen – Füße in die Welt hinaus­gehen, um sie sich anzueignen.

Und das aus sicherer Perspektive zu beobachten kann ja auch was Schönes sein.