Clownfisch

Die Quintessenz eines der interessanten Gedanken­gänge von Lars Vollmer lautet: „Das System hierarchischer Führung scheitert an Komplexität“. Mit einem Freund habe ich mich neulich genau darüber unter­halten: wie umgekehrt Menschen dazu neigen, symbiotische Beziehungen zu suchen. Symbiose? Hat das nicht was mit Bio­logie zu tun? Was interessiert mich als Führungs­kraft denn das Verhältnis von Clown­fisch und Anemone?

Alter Wein, neue Schläuche

Symbiose ist ein Begriff aus der Transaktions­analyse, der beschreibt, wie Menschen in Beziehungen durch das Ein­nehmen unter­schiedlicher Positionen versuchen, ihre Grund­bedürfnisse, z. B. nach Zuwendung, zu stillen.

„Jede Symbiose stellt einen Versuch dar, die Entwicklungs­bedürfnisse zu befriedigen, die während der Kind­heit nicht befriedigt worden waren.“ (Joines/Stewart 2015: „Die Transaktions­analyse: Eine Ein­führung.“ S. 287f.)

Als Vater eines Kindes leuchtet mir das sofort ein, denn ein Kind hat noch nicht dieselben Möglichkeiten wie ein Erwachsener, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und braucht dafür die Verantwortungs­übernahme durch die Eltern. Dieses Beziehungs­muster der über­nommenen Verantwortung für die kindlichen Bedürfnisse wird so früh und so tief­greifend gelernt, dass es nur schwer „entlernt“ werden kann. Im Gegen­teil: wir entwickeln sogar unter­schiedliche Ausbau­stufen solcher Symbiosen, die uns nicht nur emotionale Befriedigung verschaffen, sondern auch auf einer sehr tiefen, aber un(ter)bewussten Ebene am Leben erhalten.

Und so gehen wir auch im Erwachsenen­leben wieder auf die Suche nach solchen Beziehungen. Egal, ob in der Politik (plakatives Beispiel: „Mutti“ Merkel, die entweder an allem Schuld oder eine Heilige ist, Greta als neue Jeanne d'Arc oder auch Patriarchen wie Recep Tayyip Erdoğan), in der Liebe (wir suchen nach Partner:innen, die so sind „wie Mama/Papa“) oder auch auf der Arbeit (Chef, Stift, dumme Kundschaft) – über­all legen wir das gute alte Muster wieder auf, ohne es unbedingt zu ahnen.

Nicht ganz auf der Höhe der Zeit

Das Problem an diesem Verhalten liegt auf der Hand: die Beziehungs­strategie hinter solchen Symbiosen ist eine alte und der Erwachsenen­welt nicht mehr angemessen. Weil sie aber so gut und früh erprobt wurde und auch noch funktioniert hat, bricht sie sich heimlich immer wieder Bahn. „Lassen Sie mal, ich mache das für Sie!“, ist so eine typische Symbiose­einladung, mit der wir unser Gegen­über aus der Verantwortung nehmen. „Ich glaube, ich schaffe das einfach nicht!“, ist das passende Gegen­stück dazu. Beide verschieben Verantwortung und beide werten die Möglichkeiten zur Selbst­verantwortung und Problemlösungs­kompetenz ab – ob nun bei mir selbst oder beim Gegen­über.

Interessant ist, dass Eigen­verantwortung und individuelle Kompetenz zwei essentielle Bau­steine unserer heutigen Arbeits­welt sind, die mit Komplexität und einer gewaltigen Unsicherheit umzugehen hat. Und dass beide in diametralem Gegen­satz zu hierarchischer Führung stehen, die dieser Komplexität schlicht nicht gewachsen ist! Denken wir nur an den von Lars Vollmer beschriebenen Schutz­mann aus den 50er Jahren, der verzweifelt versucht, den Verkehr in einer asiatischen Metropole zu kontrollieren. Hier hilft nur, auf die Auto­nomie der einzelnen Verkehrs­teilnehmer:innen zu setzen, zentrale Steuerung versagt bei dem Versuch, Ordnung zu schaffen, völlig.

Angst vor Veränderung

Wenn über „Transformation“, „Change“ oder „Disruption“ gesprochen wird, schauen die meisten vor allem auf die Strukturen und den Menschen, der sich eben in die neuen Muster einzupassen hat. Was dabei völlig vergessen wird: wir können unsere Lebens- und Beziehungs­erfahrung nicht einfach an der Garderobe abgeben. Wir kommen nicht als unbeschriebene Blätter auf die Arbeit. Mehr noch: wenn „New Work“ dazu aufruft, als „ganze Menschen“ auf die Arbeit zu kommen, dann müssen wir uns genau anschauen, was eigentlich passiert, wenn Symbiosen auf­gegeben werden sollen. Was passiert, wenn sie einem Baby jegliche Zuwendung versagen? Es stirbt. Diese Todes­angst sitzt vielen noch „in den Knochen“, sie ist tief ein­gespeichert und sorgt dafür, dass Symbiosen gesucht und aufrecht erhalten werden.

Die Angst vor der Eigen­verantwortung, der Veränderung alt­gedienter Strukturen und Prozesse hat immer auch etwas mit der Veränderung von Beziehungen zu tun. „New Work needs Inner Work“ heißt das sehr empfehlens­werte Buch von Joana Breiden­bach und Bettina Rollow und der Titel bringt es auf den Punkt! Ohne an uns selbst und unserer „emotionalen Reife“ zu arbeiten, kommen wir der neuen Arbeits­welt, die Komplexität und Unsicherheit mit Agilität und Auto­nomie beantwortet, nicht näher. Wir müssen beginnen, die Ängste der Einzelnen ernst zu nehmen und uns zu fragen, welche Bedürfnisse dahinter stehen. Und das braucht noch viel mehr, als Strategie-Meetings und Kicker­tische. Das braucht Vertrauen, Schutz und Offen­heit. Und Mut, tonnen­weise Mut.

Zeit für Emotionen – Zeit für Autonomie

Deswegen setzt ein Coaching im Kontext von Veränderung in der Organisations­struktur für mich immer auch bei den Bedürfnissen der Einzelnen an. Nur wenn alle ihre eignen Bedürfnisse kennen und diese auch gesehen werden, kann sich an den Strukturen etwas ändern. Innere Struktur erzeugt äußere Struktur. Die Konflikte, die durch Symbiosen entstehen – zum Beispiel durch Unzufriedenheit, dass die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen werden, die Leitung alles entscheiden will – müssen offen bearbeitet werden, weil sie sonst als Alt­lasten mit ins neue System wandern. Unsere Gefühle spielen dabei eine große Rolle und die Beziehungs­anliegen, die sich daraus ergeben. Die Sprache, die es dafür braucht, kann man lernen. Das hierarchische, rationale und effizienz­geile System, das bisher weite Teile unserer Wirt­schaft prägt, hatte dafür wenig Platz. Wer aber Mit­arbeiter:innen zu Mit­streiter:innen in der gemeinsamen Sache machen will, wer eine echte Wir-Kultur aufbauen will, der braucht den ganzen Menschen. Und dazu gehören die Gefühle.

Wenn Einzelne stärker Verantwortung über­nehmen sollen, gehört dazu ein Prozess, um diese Verantwortung und Auto­nomie auch über­nehmen zu lernen. Symbiotische Beziehungs­muster im Team sollten sicht­bar gemacht werden (zum Beispiel in einer LEGO® SERIOUS PLAY®-Session zur Team­struktur). Das bedeutet übrigens nicht, dass man einander nicht hilft – aber dass Bewusst­sein und Klarheit darüber herrscht, wer welche Verantwortung über­nimmt und welches Bedürfnis dahinter liegt. Das Schöne aber auch Frustrierende daran ist, dass dieser Prozess der Beziehungs­arbeit im Team niemals aufhört. Wer aber so im Gespräch bleibt und den Raum dafür schafft, hat den Grund­stein für ein Team gelegt, dass mehr teilt, als nur den Firmen­namen auf der Visiten­karte.