Wann warst du das letzte Mal richtig wütend? Hast du die Situation noch vor Augen und kannst dich daran erinnern, wie du dich gefühlt hast? Hat dein Blut gekocht? War da ein glühender Lavaball in deinem Bauch? Oder war es kalte, starre Wut, wie eine Lawine kurz vor dem Abgang? Die wenigsten genießen ihre Wut so richtig und auch ich habe da einiges dazulernen müssen, um meine Wut „zu mir zu nehmen“, sie zu einem willkommenen Gast zu machen.
Wie du eine andere, hilfreiche Sicht auf deine Wut bekommst und wie du mit Wut bei Kindern umgehen kannst, will ich dir in diesem Artikel beschreiben. Eines ist mir sehr wichtig: das sind alles Vorschläge, keine Patentrezepte. Deine Wut ist – deine Wut! Und wenn du Kinder hast, kennst du als ihr Papa sie besser als jeder andere Mensch (ausgenommen vielleicht die Mama… ;)). Ich würde mich aber freuen, wenn dir meine Gedanken helfen, Mut zur Wut zu haben.
Wofür soll das gut sein?
Eine gute Frage! Wut scheint uns eher nicht zu helfen, wird oft als irrationales und destruktives Gefühl beschrieben, für das man sich eher schämen sollte. Vielleicht hast du auch als Kind gelernt, wie so viele, dass du deine Wut besser kontrollieren solltest. Bei mir kommen beim Gedanken an Wut bis heute noch Schreckensvisionen von verbrannter Erde und irreparablen Schäden. Wie bei einem Vulkanausbruch, bei dem die Lava einfach alles in ihrem Weg verbrennt und zerstört. Unkontrollierbar, unaufhaltsam.
Wofür ist Wut also gut? Man könnte sagen: für dich. Denn Wut ist eine starke Kraft, die sich als Reaktion auf Reize von außen entfaltet und dich in Bewegung setzt. Sie ist, wenn man so will, eine Art Schutzengel deiner Grenzen. Wann immer du dich verletzt, missverstanden, ungerecht behandelt oder einfach übersehen fühlst, meldet sie sich vielleicht. Und das oft mit ziemlich heftigen körperlichen Reaktionen.
Wut bietet dir Schutz
Wut schützt dich. Sie ist ein natürlicher Abwehrmechanismus und setzt Energie frei, damit du deine Bedürfnisse einfordern kannst. Für eher sensible Menschen kann das ein wertvoller Aspekt sein, denn es fällt ihnen oft nicht leicht, die eigenen Bedürfnisse wichtig zu nehmen oder überhaupt zu spüren. Wut ist da ein prima Indikator: wenn sie sich meldet, frag' dich doch mal, WARUM du gerade wütend bist und WAS du vielleicht brauchst und gerade nicht bekommst.

Vor allem wenn es darum geht, die eigenen Grenzen zu spüren und zu wahren, ist Wut sehr hilfreich. Unsere Grenzen können leicht verletzt werden, nur oft genug gehen wir selbst darüber hinweg, sie angemessen zu verteidigen. Aus Höflichkeit, falsch verstandener Rücksichtnahme oder sogar aus Angst vor unangenehmen Konsequenzen. Wut kommt uns als natürliche Schutzfunktion zur Hilfe, um genau hier für Klarheit zu sorgen. Sie deine Wut in so einer Situation ruhig wie einen Schutzschild, eine Art Rüstung, die dich gegen Übergriffe von Außen schützt. Und die dir die Kraft gibt, für deine Bedürfnisse einzustehen.
Wut macht dir Platz für Lösungen
Klingt verrückt, oder?! Wer so richtig wütend ist, ist doch überhaupt nicht ansprechbar. Aber Vorsicht: viele tappen hier in eine Begriffsfalle. Denn Wut ist nicht gleich Jähzorn. Zorn ist die destruktive Ausdrucksform von Wut, sozusagen die Kehrseite der Medaille. Zorn ist blind, könnte man sagen, Wut öffnet Augen. Wenn du also Wut verspürst, kannst du das auch nach außen zeigen. Und machst so Platz für eine Veränderung!
Denk' dir einfach, dass es doch Wut über Diskriminierung brauchte, damit die Bürgerrechtsbewegung in den USA oder die gewaltfreie Befreiung vom Kolonialismus in Indien überhaupt so stark und erfolgreich werden konnte. Man kann also Wut als Katalysator für Lösungen benutzen. Und so, wie Wut deine Grenzen schützt, zeigt sie eben auch, was sich ändern muss, um deine Bedürfnisse wahrzunehmen. Natürlich nur so weit, wie die Bedürfnisse anderer nicht verletzt werden.
Wut zeigt dir, was wichtig ist
Wenn dich etwas wütend macht, dann hat es Bedeutung. Mich zum Beispiel macht rücksichtsloses Verhalten wütend. Das heißt, ich lege großen Wert auf gegenseitigen Respekt und Rücksichtnahme. Und das ist doch was Gutes! Frag' dich doch mal, was dich üblicherweise wütend macht und du wirst Hinweise auf deinen eigenen Wertekompass finden.
In der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg lernen wir, dass wir unsere Gefühle und Bedürfnisse für den anderen transparent machen müssen, um zu einer gemeinsamen Lösung zu gelangen. Dazu müssen wir aber wissen, was es eigentlich im Kern ist, was wir brauchen. Genau hier zeigt dir deine Wut den Weg.
Kindliche Wut, elterliche Wut
Für viele hat Wut etwas kindliches. Wir denken schnell an das zeternde Kleinkind, das sich im Supermarkt auf den Boden wirft. Eltern, die mit wütenden Kindern konfrontiert sind, haben zwei Möglichkeiten: Konfrontation oder Begleitung. Ich möchte dich einladen, es einmal mit der liebevollen Begleitung zu versuchen! Gerade jetzt, da wir alle durch Isolation, Home Schooling und Home Office zu sehr viel gemeinsamer Zeit gezwungen sind, bleiben Situationen nicht aus, in denen du kindlicher Wut ausgesetzt bist.

Wenn du, statt in Konfrontation zu gehen (also zum Beispiel durch Schimpfen oder Strafen), dir vornimmst, deinem Kind zu helfen, seine Bedürfnisse hinter der Wut aufzudecken, könnte etwas Schönes daraus entstehen. So könntest du vorgehen:
Raum geben
Natürlich muss dafür der Wutanfall erst einmal überstanden werden. Dabei hilft es, dem Kind einen Raum für die Wut zu geben. Bleibe in der Nähe, signalisiere, dass du da bist, wenn es dich braucht. Aber lass' ihm die Zeit, den Frust herauszulassen. So lange es sich selbst und andere dabei nicht gefährdet, ist das ein wichtiger Lernschritt zur emotionalen Kompetenz. Gefühle dürfen sein, auch die ganz starken. Du kannst dir das in etwa vorstellen, als wärst du eine schützende Mauer um dein Kind herum.
Annähern
Wenn du merkst, dass die Wut nachlässt, versuche einmal, Kontakt herzustellen. Erst durch Ansprechen, dann auch durch Berührung. Der körperliche Kontakt hilft dem Kind, sich wieder im Hier und Jetzt einzufinden und sich wieder auf die Umgebung einzulassen. Es ist aber auch okay, wenn es keinen Körperkontakt will! Wir wollen ja auch nicht immer gleich in den Arm genommen werden. Hier solltest du unbedingt auf die Grenzen achten, die dein Kind dir zeigt. So wird es selbst einmal gut darauf achten können.
Achte bei der Annäherung einmal auf deinen eigenen Atem! Versuche, so gut es geht in ruhig in den Bauch zu atmen und so vor allem eins auszustrahlen: Es ist okay! Vielleicht könnt ihr euch in eine gemütliche Position begeben, und dabei in Kontakt bleiben.
Aussprechen
Jetzt, wo ihr in Kontakt seid und etwas Ruhe eingekehrt ist, könnt ihr vielleicht versuchen (je nach Alter/Entwicklung), dem Gefühl einen Namen und eine Bedeutung zu geben. Biete dich als Echokammer der Gefühle an: was sagt dir dein Bauch, was das gerade war? War es Wut? Traurigkeit (oje, noch so ein starkes und gefährliches Gefühl, nicht wahr)? Und was steckt vielleicht dahinter?
Versuche, deinem Kind nicht vorzugeben, was es fühlt, sondern frag' behutsam nach. „Bist du wütend? Ich habe so einen heißen Feuerball in meinem Bauch gespürt – wie war das bei dir?“ Lass’ dich nicht entmutigen, wenn du daneben liegst. Zum Aussprechen gehört auch, dass dein Kind nun mal seine eigenen Gefühle auch erst verstehen lernen muss. Das ist überhaupt nicht einfach – wissen wir ja auch! Du kannst auch versuchen herauszufinden, was der Grund für das Gefühl war. Hier hilft es, die Situation mal aus der Sicht des Kindes zu betrachten: was ist passiert? Was war ihm gerade wichtig? Wo fühlte es sich vielleicht eingeschränkt? Du kannst ja mal neugierig nachfragen, worum es gerade eigentlich ging oder deine Vermutungen anbieten.
Gehen lassen
Nachdem ihr vielleicht herausfinden konntet, was gerade los war, kannst du die Möglichkeit schaffen, aus dem starken Gefühl wieder herauszukommen. Nicht unbedingt durch ein „jetzt ist es ja wieder gut“ (ist es das?), sondern eher durch Angebote, zu etwas anderem überzugehen. „Würde es dir gut tun, was zu trinken/spielen/lesen?“ Durch Angebote gibst du deinem Kind die Möglichkeit, für sich herauszufinden, wie es sich selbst aus starken Gefühlen herausholen kann, bzw. was ihm gut tut.
Und natürlich könntest du selbst auch schauen, was du anschließend brauchst – schließlich ist so ein gemeinsam durchgestandener Wutausbruch Nervenkitzel pur. Wenn du bis hierhin ruhig geblieben bist, hast du dir auf jeden Fall eine Belohnung verdient. Lob' dich ruhig mal für solche Aktionen, das hilft, entspannter in die nächste zu gehen – denn die wird kommen, garantiert.
Mut zur Wut
Ich hoffe, du hast nun ein paar Inspirationen zum Umgang mit deiner Wut bekommen. Fühlt sich immer noch unbequem oder sogar beängstigend an? Geht mir auch so. Es ist ja so: es sich zu erlauben, auch wütend zu werden, erfordert Mut. Mut, zu dir zu stehen und dazu, dass du eben kein Zen-Mönch, Jedi-Ritter oder Stoiker bist. Du bist wahrscheinlich einfach ein ziemlich liebenswürdiger Mensch, ein feiner Kerl. Und auch die dürfen sich mal eine Portion Wut gönnen.
Du willst mehr über deine Wut und andere starke Gefühle erfahren? Wunderbar, dann könnten wir uns doch mal zu einem Kennenlernen verabreden. Ich freue mich auf dich – und deine Wut. 🙂
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